Dr.Roland Held
Ausstellungseröffnung Videor Art Foundation
Exhibition „Between the Bytes“
Zu den sozusagen kumulativen Erkenntnissen, die uns, meine sehr verehrten
Damen und Herren, von unzähligen Museumsbesuchen geblieben sind, gehört
folgende: das typische Landschaftsgemälde kommt im Querformat daher. Weil
dieses sich ideal anbietet, die meist als horizontale Bänder auftretenden
Naturerscheinungen Erde, Feld, Wald, Fluß, Weg, Meer, Himmel plausibel zu
staffeln. Dafür, daß Querformat immer noch Landschaft signalisiert, auch
wenn es statt handgemalt maschinengedruckt ist und uns statt der ge-nannten
Naturerscheinungen nur wie mit dem Lineal gemessene horizontale Farbstreifen
begegnen, dafür finden wir hier im Raum mehrere Beispiele. Anders verhält es
sich mit dem Bild, das ich als Einstieg in diese Ausstellung empfehle. Als
gleichseitiger Quadrat-meter hängt es an der Wand, als Digitalfotografie,
die das Künstlerduo Siebrecht und Pempeit nach einer eigenen Methode
prozessiert und als Pigmentdruck auf Leinwand gebracht hat. Aber selbst wenn
es sich nicht schon per Titel „landscape fragmented – in Teile zerlegte
Landschaft“ thematisch zu erkennen gäbe, hätte der Betrachter doch am Motiv
kaum Zweifel: zu sehr ist sein Wahrnehmungsapparat geeicht auf die
Situation, Grasgrün zu sehen, wenn er den Blick senkt, Himmelsblau, wenn er
den Blick hebt, und jenen hellen Bereich dazwischen, der für Gebäude stehen
könnte, asphaltierte Flächen, Mauern und Zäune – jedenfalls etwas vom
Menschen Gesetztes. Nicht der verwischte Eindruck dieser Mittelzone ist es,
was verwirrt. Es sind die Rotanteile des Werks. Kerzen-gerade und fadendünn
steigen sie auf, dichtgereiht und doch wieder transparent, aus dem Grün hoch
ins Blau, an Fontänen erinnernd, die ihr purpurnes Naß in die Luft schießen.
Doch welches Naß? Welche Substanz wurde da zu spritzenden Partikeln
zerschreddert? Ist da eben noch ein Rasenmäher durchs Bild gerollt? Und was
hat er erwischt? Nur ein Bü-schel Mohnblumen – oder nicht vielleicht doch
etwas Kostbareres, Empfindlicheres? Plötzlich hat der Betrachter das Gefühl,
er steht vor einer Szene, die ihre Unschuld verlo-ren hat allein schon weil
in ihr etwas vorgefallen ist, dessen Konsequenzen buchstäblich noch in der
Luft hängen, ohne daß man doch rekonstruieren könnte, was. Durch irgendeine
Manipulation, auf die zurückzukommen sein wird, ist es seinen Augen
entzogen. Des Rät-sels Lösung pocht gleichsam von hinten ans Bild, kommt
aber nicht durch.
Das läßt mich an einen Film denken, den Sie alle kennen. Nein, nicht den
„Rasenmäher-Mann“, frei nach Stephen King. Ich meine „Blow Up“, den
Klassiker der Kinoleinwand, den Michelangelo Antonioni 1966 vor dem
Hintergrund des „Swinging London“ drehte. Sie werden sich erinnern: da ist
der Modefotograf, der sich ein bißchen, gerade so viel, daß es nicht
schmerzt, an den Grenzen seines Metiers reibt und etwas Authentischeres
versuchen möchte. Der Teufel beschenkt ihn genau damit. Als er
Gelegenheitsfotos eines Lie-bespaars in einem Park macht, nimmt er ungewollt
Täter und Opfer eines offenkundigen Mordfalls mit auf. Doch unentzifferbar
klein im Gebüsch. Als er ein Blow Up, eine Ver-größerung herstellt, lösen
sich der leblose Körper ebenso wie die Hand mit der Pistole auf in
grobkörnige Unschärfe. Er ist genauso schlau wie zuvor. Eine Bekannt, der er
das Blow Up zeigt, sagt bezeichnenderweise: „Das sieht aus, als hätte mein
Freund es gemalt.“ Zweifellos ein Vertreter der abstrakten Fraktion. Nolens
volens wird der Fotograf tiefer in den Fall verstrickt: erst entdeckt er die
Leiche am Tatort, zeigt es aber nicht an, weil er plant, es kommerziell
publik zu machen; dann ist die Leiche verschwunden, und beim
Nachhause-kommen muß er feststellen, daß sowohl Abzüge als auch Negative aus
seinem Studio gestohlen worden sind. Ich würde mal vermuten, er hat den
Authentizitätstest nicht bestan-den… Auch in dieser filmischen Meditation
über die Manipulierbarkeit von Medien und Menschen und grundsätzlich über
die Moral des gestalterisch Kreativen klopft des Rätsels Lösung gleichsam
von hinten ans Bild, ohne durchzukommen. Am Ende weiß das Publi-kum nicht
mehr, was jetzt Realität, was Einbildung war, was bedeutungsvoll, was
bedeu-tungslos, was Oberfläche, was tragender Grund.
Das ist so verschieden nicht von den Fragen, davon unser Duo Siebrecht und
Pempeit um-getrieben wird, das seit mehreren Jahren schon künstlerisch
zusammenarbeitet. Bei ihnen ist, dem technischen Stand der Zeit gemäß, die
Körnung des Fotopapiers der Pixelung ge-wichen, der man auf dem Monitor des
Rechners, erst recht aber im aufwendigen Compu-terprint begegnet. Ausgehend
von Farbfotografien beider haben sie ein Konzept von Pro-duktion und
Präsentation entwickelt, das die auf Leinwand gedruckten Ergebnisse
hinein-schickt mitten ins Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Kunst,
mathematischer Steuerung und freischweifender Inspiration, Individualität
und Austauschbarkeit. Und was jene mysteriöse Kraft betrifft, die von hinten
ans Bild klopft, weil sie definiert werden will – so ist ihre Bestimmung
nicht mehr so sehr Aufgabe des Werkurhebers wie nun des Werkbe-trachters.
Geradezu didaktisch wird der bei der Hand genommen von den diversen
Fünfer-serien. Jede enthält einen Ausdruck des Originalfotos, das von sich
aus mal mehr, mal weniger gegenständliche Wiedererkennbarkeit mitbringt.
Sodann zwei Überarbeitungen, jeweils eine von B.Felician Siebrecht, eine von
K.L.Pempeit, wo streng auf der Basis des digitalen Datenbestands eine
Abfolge gestalterischer Entscheidungen zu völlig unter-schiedlichen
Kompositionen geführt hat. Bleiben zwei weitere Variationen. Auch sie
be-nutzen nichts anderes als den Datenbestand der Originale, wobei seiner
Anordnung jedoch ein spezielles Siebrecht’ sches Computerprogramm
zugrundeliegt. Dessen Algoritmen – sprich: regelhafte Rechen-vorgänge –
ergeben ein Muster, ein Muster von Hunderttausen-den hin- und hergeschobener
Einzelzeichen, das durchaus einer Programmlogik gehorcht, für unseren
Laienverstand aber besser mit „Zufall“ übersetzt wäre. Und „Muster“ ist denn
auch der Begriff, der einem auf die Lippen kommt, wenn es darum geht, die
visuellen Effekte zu beschreiben. Sie gleichen Geweben, wo Farbfäden, lang
und fein und dicht wie Schnürlregen, ineinander verzahnt sind. Oder
unendlich behutsam angefertigten Sandbil-dern, deren edelsteinhaft
leuchtende Pülverchen senkrecht-linear ineinander gekämmt wurden. Da kann
das Purpurrot von einem Flamingorosa abgelöst werden, das Kobalt- von einem
Eisblau. Angesichts der Fünferserie „Rose“ müßte Getrude Stein erst mal
einen Computer-Kurs besuchen, um begreifen zu können, weswegen ihr berühmter
Satz „A rose is a rose is a rose“ auch nach allen Pixel-Manipulationen immer
noch gilt.
Bei den Fünferserien wird im Titel ganz klar unterschieden, welches die
algoritmisch entstandenen Stationen sind und welches die als „Digitale
Malerei“ ausgewiesenen Sta-tionen, die sich dem gestalterischen Gutdünken
der Künstler verdanken – freilich mit un-gleich mehr Zeiteinsatz. Es hebt
die Werke des Duos Siebrecht und Pempeit ab von einer verbreiteten
kommerziell-glatten Tendenz innerhalb der Digitalmalerei, daß sie oft etwas
ausgesprochen Griffiges ausstrahlen, reich an vermeintlichen Überlagerungen,
Wölbungen, Materialtransparenzen wie von Linsen oder Prismen, als handle es
sich bei ihnen um reale Collagen oder Reliefs. Manchmal hat man den
Eindruck, es seien gezielt regelrechte Stör-körper und Irritationsfelder
eingebaut. Bei B.Felician Siebrecht, von der Ausbildung her Malerin, ist
diese Lust an Plastizität und Raum verwunderlicher als bei ihrem Partner
K.L. Pempeit. Denn der fußt auf einer soliden Steinmetz- und
Bildhauergrundlage. Er nimmt seine Herkunft neuerdings wortwörtlich mit den
Fliesenreliefs. Das Dilemma: „Wie kann man eigentlich ein Bild hauen?“ hat
er für sich aufgelöst, indem er per Sandstrahlverfahren höchst komplexe
Motive aus dem schwarzen Granit herausfräst. Wobei ganz am Anfang zwar eine
Zeichnung mit dem Stift stehen kann, immer jedoch eine Digitalübertragung
erst die Pixelstruktur schafft, die in der fertigen Arbeit die Suggestion
von Licht und Schatten und sogar von Tiefenerstreckung schafft.
Ob Schwarz-Weiß im Millimeterrelief, ob rein und kontrastkräftig auf die
Leinwand ge-spritzte Farben, die ihre Mischung nur durch die Nadelausschläge
des Algoritmus erfahren – über der Entwicklung getrennter und gemeinsamer
Konzepte ist für das Künstlerduo Siebrecht und Pempeit die Sinnlichkeit
nicht auf der Strecke geblieben. So scheinen sich nicht nur rätselhafte
Gegenstände und nicht mehr recht einholbare Ereignisse – pochpoch – von der
Rückseite des Bilder her bemerkbar zu machen. Es sind, wie bereits erwähnt,
auch grundsätzliche Fragen, die, allerdings mit etwas anderen Vorzeichen,
während der ganzen Kunstgeschichte gestellt wurden. Die im 19.Jahrhundert
virulente philosophische Kontro-verse über die Unterschiede zwischen dem
Naturschönen und dem Kunstschönen ist heute, zu Beginn des 21.Jahrhunderts,
und namentlich im Kontext der Videor Art Foundation, zur Seite gedrängt von
der Kontroverse zwischen dem Schönen, das von Hand, und dem, das von
Maschinen generiert ist, per Inspiration oder per Programm. Wir, die wir
ästhetischen Genuss aus der Begegnung mit beidem ziehen, können uns schlecht
aus der Kontroverse schmuggeln mit dem Argument, hinter der Maschine und dem
Programm stehe schließlich auch der Mensch. Spüren wir doch, daß die
Wirkungsweise der Resultate unterschiedlich ist, von der Erscheinungsweise
einmal ganz abgesehen. Wenn wir als Publikum heute abend zu keiner
endgültigen Erkenntnis vorstoßen, ist das um so verzeihlicher, als auch
B.Felician Siebrecht und K.L.Pempeit an dieser Nuß noch knacken. Wie wir
wandern sie suchend und grübelnd „zwischen den Zeichen“ umher – daher der
Titel dieser Ausstellung.
© Dr.Roland Held, Darmstadt 2008